S. Schwarz: Die politische Elite der Schweiz

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Titel
Im Spannungsfeld zwischen Wiederherstellung und Wandel. Die politische Elite der Schweiz während der Restauration von 1814 bis 1830


Autor(en)
Schwarz, Stephan
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
636 S.
Preis
CHF 96.00
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Auf das Ancien Régime folgt in der Schweiz bekanntlich die Helvetik, dann die Mediation, dann die Restauration, dann die Regeneration. So hat man’s gelernt – und im Kopf. Die vorliegende Arbeit überprüft und relativiert diese Einteilung und kommt, dies sei vorweg festgehalten, zum gut nachvollziehbaren Schluss, dass der Übergang von der Mediation, die man auch als die kleine Restauration bezeichnen kann, fliessend war und dass die Periode 1814–1830 keine Einheit bildete und nach 1825 zunehmend unterschiedliche Tendenzen aufkamen. Der Befund dieser Arbeit beruht auf der systematischen Analyse von 24 Lebensläufen von Angehörigen der politischen Führungselite und folgt dem von Lawrence Stone in den 1970er Jahren lancierten Konzept der Prosopographie. Wie kam dieses Sample zusammen? Die Kollektivbiografie dieser Abklärung umfasst Fallbeispiele aus 14 Städtekantonen, zwei Landsgemeindekantonen und acht «neuen» Kantonen. Es wäre von Interesse gewesen, etwas mehr über die sich bei der Auswahl der rekonstruierten Biografien stellenden Probleme zu erfahren. Die Personen mussten Amtsinhaber sein, ihre Karriere musste in der Helvetik angefangen haben, die Männer mussten «bedeutende» und «massgebende» Persönlichkeiten der Restaurationsepoche gewesen sein und wohl auch gut dokumentiert sein. Die biografische Erfassung beschränkt sich, was bei der Breite der Abklärungen verständlich und notwendig ist, weitgehend auf Sekundärquellen.

Der prosopographische Hauptteil der Arbeit (S. 205–540) zeigt, inwiefern die verschiedenen Lebensläufe übereinstimmen oder voneinander abweichen und die politischen Führungspersonen ihren Ausgangshaltungen «treu» geblieben sind oder sich im Laufe der Zeit der Entwicklung angepasst haben. Die Regimewechsel von 1798, 1803 und 1814 waren nicht von rigiden Abrechnungen gekennzeichnet, die Kontinuität wäre teilweise noch stärker gewesen, wenn in den vorangegangenen Regimen engagierte Kräfte vermehrt bereit gewesen wären, sich in den folgenden Regimen zur Verfügung zu stellen. Die Kontinuitätsphänomene weiterhin im Auge behaltend, könnte in einer weiteren Studie noch vermehrt darauf geachtet werden, inwiefern die vorübergehend ins politische Abseits geratenen Helvetiker im Laufe der Restauration wieder zum Zug kamen und in Teilen der Schweiz den Übergang zu Regenerationsregimen mitbetrieben.

Die allgemeine Entwicklung wird als gegeben angenommen und einfach als Messgrösse für die Haltung der untersuchten Personen angenommen. Mithin wird nicht umgekehrt danach gefragt, wie die erfassten Akteure den Gang der Geschichte allenfalls mitbestimmt haben. Darum gibt es auch keine Überlegungen zur Frage, welche Faktoren den als «fortschrittlich» bezeichneten Prozess der Jahre 1814–1830 vorangetrieben haben. Weiter abzuklären bleibt darum die alte Frage, inwiefern die von den konservativen Kräften mitgetragene oder sogar selber vorangetriebene wirtschaftliche Modernisierung zu einer Erosion ihres eigenen sozio-politischen Fundaments führte. Erfasst werden die Haltungen zum Wahlrecht, zur Besteuerung (Zensus), zur Gleichstellung von Stadt und Land und zum Verhältnis Bund und Kantone, aber nicht etwa zu Wirtschaftsfragen (Zunftregime und Binnenzöllen bzw. den sich in dieser Zeit häufenden interkantonalen Konkordaten). Auch die Haltung zur Volksschule bildet kein Abklärungskriterium. Hingegen wird gezeigt, dass das angehobene Bildungsniveau der Eliten (und damit der zunehmende Anteil der Funktionselite) eine wichtige Voraussetzung für die Entfaltung des «Reformgeists der Zeit» war. Schwarz stellt fest, dass es in der «neuen Politikergeneration », welche die Konservativen und die Altliberalen um 1830 ablöste, viele frisch ausgebildete Juristen gab, die an deutschen Universitäten mit dem Geist des Vormärz in Berührung gekommen waren.

Einen wesentlichen Grund dafür, dass dem restaurativen Trend Grenzen gesetzt waren, sieht der Verfasser in der föderalistischen Struktur der politischen Schweiz. Das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsräume wirkte sich zu Gunsten der Verbreitung der liberalen Demokratievorstellungen aus. Zudem waren die neuen, 1803 geschaffenen Kantone tendenziell liberaler eingestellt als die alten und wirkten so im Gesamtgebilde der Schweiz als Fortschrittsfaktor. Selbst in den konservativen Kantonen seien die Verhältnisse nach 1814 heterogener gewesen als vor 1798 im Ancien Régime. Schwarz sieht bestätigt, was Volker Reinhardt, der Pate seiner Habilitationsschrift, bereits 2010/11 dazu festgehalten hat, nämlich dass die traditionelle Führungsschicht der Restaurationsjahre ihr altes Monopol und ihre alte Autorität nicht hätten zurückgewinnen können, ihre Reputation sei wegen des «ruhmlosen Abtritts» 1798 zu stark beschädigt gewesen (S. 585 f.).

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Schwarz, Stephan: Im Spannungsfeld zwischen Wiederherstellung und Wandel. Die politische Elite der Schweiz während der Restauration von 1814 bis 1830, Basel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 153-155. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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